Maimorgen

Stille. Meditative Stille, die fasziniert und gefangen nimmt. Stille, die gar nicht still ist.

Denn hundertfach ertönt das zwitschernde Singen von Rotkehlchen und Buchfink, von Meise und Stieglitz, von Goldhähnchen und Hausrotschwanz. Der Specht in der Ferne klopft schnell seinen Takt, während das brillante Solo der Amsel im Ast gegenüber den vielstimmigen Chor kräftig anführt.

Nichts sonst ist zu hören am frühen Maimorgen. Kein Laut der Zivilisation. Nichts. Nichts außer der herrlichen Stille des Vogelkonzertes.

Kühle, flache Sonnenstrahlen wärmen nur die Seele. Sie zaubern Millionen kleinster Edelsteine auf die taunassen Blätter und Blüten. Die der Azaleen wetteifern im goldenen Morgenglanz frisch und märchenhaft um die Gunst des Betrachters, als fragten sie: „Wer ist die Schönste im ganzen Land?“

Langsam, ganz langsam kriecht die Kälte empor, macht den Körper frösteln und drängt ihn zurück ins Warme. Gedämpft nur dringt der vielstimmige Vogelchor herein. Die Sonnenstrahlen bemühen sich, den Vorhang zu durchdringen.

Im sanften Halbdunkel liegt das schlafende Kind. Geschlossen sind seine Augen, zart bewegt sich seine Brust, unhörbar geht sein Atem. Hell hebt sich sein ebenmäßiges Gesicht aus der Dämmerung, flauschig gebettet ins Kissen, und eine sanfte Strähne ziert weich seine Stirn. Dort liegt, friedlich schlafend, der Inbegriff der Liebe...

Lautlos husche ich unter die Decke. Ohne zu erwachen, schmiegt sich der Inbegriff der Liebe mit einer raschen Bewegung eng an mich. Sein Atem streichelt meine Brust. Wärme erfüllt Körper und Geist, Glückseligkeit das Herz. Leiser und leiser wird der Chor der Vögel, schwerelos senkt sich der Schlaf herab, um fünf Uhr früh

 

am Morgen des 1. Mai...